Es soll passieren, dauert aber noch. Damit muss man erst mal klarkommen. Wer die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub nicht ausreichend erlernt, hat bei so ziemlich allem, worauf es in der bürgerlichen Gesellschaft ankommt, schlechte Chancen. Allerlei Kernkompetenzen, von der Ausprägung moralischen Bewusstseins bis zur Konzentrationsspanne, gelten als leichter zu erwerben, wenn das Ausbleiben eines herbeigesehnten Zustands in der Persönlichkeitsentwicklung ordentlich trainiert wurde. Entsprechend schlecht bestellt war es um die Zukunft des UT-Kid, einem Klassiker der Internetvideo-Berühmtheiten aus jener entrückten Zeit vor dem Eintreffen professionalisierter Youtube-Unterhalter.
UT-Kid am durchdrehen: https://www.youtube.com/watch?v=RKSj0Z0spqo
„Ich will nicht, dass es lädt. Wenn es lädt, dann muss man immer so lange WARTEN!! ICH WILL NICHT WARTEN!!!!!11!“, brüllt der sichtlich mit geringer Frustrationstoleranz ausgestattete Junge ob der nicht enden wollenden Präsenz der einzig wahren Nemesis aller Gamer: des Ladebildschirms. Ob er heute, zehn Jahre später, tatsächlich am unteren Ende angekommen ist? Oder haben sich dann doch diejenigen Studien bewahrheitet, die Computerspielern hohe Problemlösungskompetenz und damit bessere Berufsaussichten voraussagen? Wir werden es nicht erfahren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Authentizität dieses akustisch wie sprachlich durchaus befremdlichen Wutausbruchs – das werden auch die weniger Heimvideo-affinen Seher vermutet haben – sehr zu bezweifeln ist.
Der selbstironische Humor der Digital natives ist genauso wenig zu unterschätzen wie ihre Medienkompetenz. UT-Kid, wohlwollend verstanden als Karikatur des cholerischen Egoshooter-Zockers, der seine pubertären Energien nicht in der Briefmarkensammlung zu sublimieren weiß und deshalb allen Söhnen von Prostituierten da draußen mit dem Redeemer an die Gurgel will, bis selbst die unschuldige Tastatur dran glauben muss, zeigt einen Zusammenhang auf, den Johannes Vincent Knecht im ersten Eintrag auf diesem Blog bereits ausführlich diskutiert hat: Die Unfähigkeit zu warten als Siegeszug der instrumentellen Vernunft, wie Max Horkheimer vielleicht gesagt hätte. Es sei eben eine von Herrschaftsfantasien geprägte Haltung, die das reibungslose und planmäßige Funktionieren aller innerweltlichen Abläufe erwartet. Keine Minute des Tages kann mit sinnlosem, leerem Abwarten zugebracht werden. Alle Lebenszeit wird auf einen Zweck hin zugerichtet, Verwertungszusammenhängen unterstellt, zur Selbstoptimierung genutzt. Zum Glück ist das Smartphone zur Stelle, wenn die Bahn mal länger auf sich warten lässt. Und was ist instrumenteller als jenes Denken, das im virtuellen Gegenüber nur eine verdinglichte Zielscheibe erkennt, die es abzuschießen gilt, wenn man am Ende der Partie in der Punktewertung oben stehen will? Kein Wunder, dass das UT-Kid nicht darauf warten kann.
Aber natürlich ist es nicht so einfach. Viele der Kunstwerke, die derzeit in der Galerie der Gegenwart zu sehen sind, führen die biopolitische Dimension des Wartens vor Augen. Ob im Arbeitsamt oder im Asylantenheim, der Warteraum kann eine Disziplinierungsanstalt sein, ein Supplement des Thronsaals, wo der Monarch sein Urteil ergehen lässt. Alle Seiten des Wartens, die punitive und die kulturtechnische oder gar die aktivistische – Warten als Aktionsraum –, hat dieser Blog beleuchtet und bis zu Ovid zurückverfolgt. Kürzlich wurde mir die Körperlichkeit des Wartens auf weniger weltbewegende Weise zuteil. Im Wartezimmer einer Hautärztin blieb mir nach der ausführlichen Lektüre von Spiegel und Apotheken Umschau nichts anderes übrig, als die ausgesprochene Oberflächlichkeit der Einrichtung zu bemerken. Ein wahres Potpourri taktiler Qualitäten ergab sich beim Anblick der Raumverkleidung: glattes Plexiglas in verschiedenen Farben, kaltes Aluminium (hier poliert, dort gebürstet), samtiges Milchglas, blitzblanke Fensterscheiben, zwei verschiedene Raufasertapeten im Streiflicht, federndes Linoleum am Fußboden, klebrige Melaminstühle, ein warmer Türknauf aus dunklem Hartholz, Sesselleisten aus pechschwarzem Marmorimitat, Wandvertäfelungen aus mindestens drei Holzsorten in verschiedener Körnung. Auch die Kunstwerke waren offensichtlich mit Bedacht gewählt. Kleinformatige Abstraktion zwischen Tachismus und Action Painting, pastose Acrylfarbe, in Spachteltechnik auf die trockene Leinwand aufgeschabt, reines Relief, absolut oberflächlich in jeder Hinsicht. Die dazwischen gehängten Quadrate aus gebürstetem Edelstahl, die das Licht diffus spiegeln, gaben dem Eindruck den Rest: In dieser Ordination konnte nur eine Spezialistin am Werk sein, die alles über die Oberfläche meines Körpers weiß. Der darauf folgende Besuch beim Allgemeinmediziner festigte den Eindruck, dass die Therapie im Wartezimmer schon in vollem Gange ist. Zu sehen waren hier ausnahmslos großformatige Fotografien von geöffneten Fenstern, die den Blick aufs ruhige Meer bis zum Horizont hinausführen. Der Arzt blickte in mich hinein, als stünde die Tür zu meinem Innersten sperrangelweit offen, und erkannte sofort die Wurzel der Beschwerden.
Die Verwertung der Aufmerksamkeit eines Wartenden fällt leider selten so harmlos aus. In der Regel liegt der Nutzen nicht bei dem, der wartet. Das merkt man etwa daran, dass Warten in der technologisch entwickelten Welt weitgehend identisch geworden ist mit dem Empfangen von Werbebotschaften. Es ist eine merkwürdig zweischneidige Angelegenheit. Einerseits ließe sich die Geschichte der technologischen Entwicklung wahrscheinlich halbwegs plausibel als Geschichte der Wartezeitverkürzung erzählen. Warten, bis das Reiseziel erreicht, die Nachricht übermittelt, die Ernte eingefahren, die Behausung warm, das Nahrungsmittel gar, die Wäsche trocken, die Wahl ausgezählt, das Kriegsziel zerstört, der Rohstoff gefördert, das Abbild produziert, der Text vervielfältigt oder das Computerspiel geladen ist; alle Prozesse von Dauer haben Quantensprünge an Beschleunigung hinter sich. Andererseits wäre die moderne Ökonomie kaum denkbar, wenn nicht überall auf das reklamebedingte Empfangen von Konsumbedürfnissen gewartet werden müsste. Der Computerspieler fragt sich, warum der Ladebildschirm nur selten Werbefläche ist. Ist es reine Nettigkeit der Entwickler, dass hier meist hilfreiche, unterhaltsame Informationen oder atmosphärische Präludien die Wartezeit vertreiben? Oder gibt es einen bestimmten Ethos, eine Etikette, die den unlauteren Umgang mit wartendem Bewusstsein verbietet?
Indes hat die Galerie der Gegenwart einen Weg gewählt, der sich nicht entscheiden muss zwischen ästhetischer Kritik und poetischer Ästhetisierung des Wartens. Tobias Rehbergers Rauminstallation, die als Atrium zur Ausstellung fungiert und den sonst eher am Ende zu erwartenden Lesebereich an den Anfang setzt, lässt manche Sonntagnachmittag-Besucher direkt wieder kehrtmachen, weil sie den Eingang zu den weiteren Räumen nicht sofort finden. Über solche Ungeduld des unversierten Publikums mögen Eingeweihte anfangs noch amüsiert sein, nicht ahnend, dass auch auf ihre Fäden eine Probe zukommt. Jedem einzelnen Exponat ist eine ausführliche Texttafel vorgeschaltet. Ein Zeichen für den hohen Stellenwert der Vermittlung und im Prinzip nicht verkehrt. (Andere Kuratoren des Hauses handhaben das genau umgekehrt. In der Abteilung Malerei des 19. Jahrhunderts ist jede title card ausnahmslos hinter dem Exponat angebracht, zumindest sofern man die konventionelle Leserichtung voraussetzt. Vermutlich unbewusst befolgt dieser Unterschied das Klischee von der Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst. Als wären die Empfindungen, aus denen heraus Menschen vergangener Epochen Kunst schufen, für alle evident und nachvollziehbar, der Zugang zu den Medien, Gestaltungsprinzipien und Themen der eigenen Zeit dagegen völlig verstellt.) Ich gehöre zu denen, die nicht anders können, als jeden Text fleißig durchzulesen, schließlich will ich ja das umfassende Bild. Schnell muss ich feststellen, dass diese Texte nicht für mich geschrieben sind. Sie halten nicht die Informationen bereit, die mich interessieren würden, und wenden sich offenbar an ein Publikum, das mich nicht einschließt. Ich könnte das ignorieren, ohne einführende Lektüre vor die Werke treten, ihre Merkmale mit meinen Kriterien unvermittelt in Abgleich bringen, aber der Eifer will nichts auslassen. Der Millennial in mir, der Aufmerksamkeit nur als prekären Zustand kennt, will das sinnliche Spektakel sofort, will ohne lästigen Prolog eintauchen in das, was Kant das freie Spiel der Verstandeskräfte genannt hat (Kant war zum Glück kein Kunstkritiker). Aber vor dem Spiel winkt wieder und wieder der Ladebildschirm. Ich mahne mich zur Disziplin und strapaziere meine Frustrationstoleranz, suche die Informationsnadel im Beschreibungshaufen, schließlich bin ich nicht das UT-Kid, muss das aushalten können, das Effizienzparadigma darf nicht auch noch die Sphäre der Kunst annektieren. Vielleicht ist es nur eine besonders gefinkelte rezeptionsästhetische Strategie, mich die Biopolitik des Wartens am eigenen Leib spüren zu lassen. Oder Anklage an meine Hybris, alles von selbst zu verstehen. Oder ein expectational turn in der Kunstvermittlung? Wäre dies ein Computerspiel, wüsste ich die Lösung. Eine Escape-Taste, einen A-Knopf für eine Escape-Taste!