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Ich will nicht, dass es lädt.
Die Kunst und der Ladebildschirm
Elias Wagner

Es soll passieren, dauert aber noch. Damit muss man erst mal klarkommen. Wer die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub nicht ausreichend erlernt, hat bei so ziemlich allem, worauf es in der bürgerlichen Gesellschaft ankommt, schlechte Chancen. Allerlei Kernkompetenzen, von der Ausprägung moralischen Bewusstseins bis zur Konzentrationsspanne, gelten als leichter zu erwerben, wenn das Ausbleiben eines herbeigesehnten Zustands in der Persönlichkeitsentwicklung ordentlich trainiert wurde. Entsprechend schlecht bestellt war es um die Zukunft des UT-Kid, einem Klassiker der Internetvideo-Berühmtheiten aus jener entrückten Zeit vor dem Eintreffen professionalisierter Youtube-Unterhalter.

UT-Kid am durchdrehen: https://www.youtube.com/watch?v=RKSj0Z0spqo

„Ich will nicht, dass es lädt. Wenn es lädt, dann muss man immer so lange WARTEN!! ICH WILL NICHT WARTEN!!!!!11!“, brüllt der sichtlich mit geringer Frustrationstoleranz ausgestattete Junge ob der nicht enden wollenden Präsenz der einzig wahren Nemesis aller Gamer: des Ladebildschirms. Ob er heute, zehn Jahre später, tatsächlich am unteren Ende angekommen ist? Oder haben sich dann doch diejenigen Studien bewahrheitet, die Computerspielern hohe Problemlösungskompetenz und damit bessere Berufsaussichten voraussagen? Wir werden es nicht erfahren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Authentizität dieses akustisch wie sprachlich durchaus befremdlichen Wutausbruchs – das werden auch die weniger Heimvideo-affinen Seher vermutet haben – sehr zu bezweifeln ist.

Der selbstironische Humor der Digital natives ist genauso wenig zu unterschätzen wie ihre Medienkompetenz. UT-Kid, wohlwollend verstanden als Karikatur des cholerischen Egoshooter-Zockers, der seine pubertären Energien nicht in der Briefmarkensammlung zu sublimieren weiß und deshalb allen Söhnen von Prostituierten da draußen mit dem Redeemer an die Gurgel will, bis selbst die unschuldige Tastatur dran glauben muss, zeigt einen Zusammenhang auf, den Johannes Vincent Knecht im ersten Eintrag auf diesem Blog bereits ausführlich diskutiert hat: Die Unfähigkeit zu warten als Siegeszug der instrumentellen Vernunft, wie Max Horkheimer vielleicht gesagt hätte. Es sei eben eine von Herrschaftsfantasien geprägte Haltung, die das reibungslose und planmäßige Funktionieren aller innerweltlichen Abläufe erwartet. Keine Minute des Tages kann mit sinnlosem, leerem Abwarten zugebracht werden. Alle Lebenszeit wird auf einen Zweck hin zugerichtet, Verwertungszusammenhängen unterstellt, zur Selbstoptimierung genutzt. Zum Glück ist das Smartphone zur Stelle, wenn die Bahn mal länger auf sich warten lässt. Und was ist instrumenteller als jenes Denken, das im virtuellen Gegenüber nur eine verdinglichte Zielscheibe erkennt, die es abzuschießen gilt, wenn man am Ende der Partie in der Punktewertung oben stehen will? Kein Wunder, dass das UT-Kid nicht darauf warten kann.

Aber natürlich ist es nicht so einfach. Viele der Kunstwerke, die derzeit in der Galerie der Gegenwart zu sehen sind, führen die biopolitische Dimension des Wartens vor Augen. Ob im Arbeitsamt oder im Asylantenheim, der Warteraum kann eine Disziplinierungsanstalt sein, ein Supplement des Thronsaals, wo der Monarch sein Urteil ergehen lässt. Alle Seiten des Wartens, die punitive und die kulturtechnische oder gar die aktivistische – Warten als Aktionsraum –, hat dieser Blog beleuchtet und bis zu Ovid zurückverfolgt. Kürzlich wurde mir die Körperlichkeit des Wartens auf weniger weltbewegende Weise zuteil. Im Wartezimmer einer Hautärztin blieb mir nach der ausführlichen Lektüre von Spiegel und Apotheken Umschau nichts anderes übrig, als die ausgesprochene Oberflächlichkeit der Einrichtung zu bemerken. Ein wahres Potpourri taktiler Qualitäten ergab sich beim Anblick der Raumverkleidung: glattes Plexiglas in verschiedenen Farben, kaltes Aluminium (hier poliert, dort gebürstet), samtiges Milchglas, blitzblanke Fensterscheiben, zwei verschiedene Raufasertapeten im Streiflicht, federndes Linoleum am Fußboden, klebrige Melaminstühle, ein warmer Türknauf aus dunklem Hartholz, Sesselleisten aus pechschwarzem Marmorimitat, Wandvertäfelungen aus mindestens drei Holzsorten in verschiedener Körnung. Auch die Kunstwerke waren offensichtlich mit Bedacht gewählt. Kleinformatige Abstraktion zwischen Tachismus und Action Painting, pastose Acrylfarbe, in Spachteltechnik auf die trockene Leinwand aufgeschabt, reines Relief, absolut oberflächlich in jeder Hinsicht. Die dazwischen gehängten Quadrate aus gebürstetem Edelstahl, die das Licht diffus spiegeln, gaben dem Eindruck den Rest: In dieser Ordination konnte nur eine Spezialistin am Werk sein, die alles über die Oberfläche meines Körpers weiß. Der darauf folgende Besuch beim Allgemeinmediziner festigte den Eindruck, dass die Therapie im Wartezimmer schon in vollem Gange ist. Zu sehen waren hier ausnahmslos großformatige Fotografien von geöffneten Fenstern, die den Blick aufs ruhige Meer bis zum Horizont hinausführen. Der Arzt blickte in mich hinein, als stünde die Tür zu meinem Innersten sperrangelweit offen, und erkannte sofort die Wurzel der Beschwerden.

Die Verwertung der Aufmerksamkeit eines Wartenden fällt leider selten so harmlos aus. In der Regel liegt der Nutzen nicht bei dem, der wartet. Das merkt man etwa daran, dass Warten in der technologisch entwickelten Welt weitgehend identisch geworden ist mit dem Empfangen von Werbebotschaften. Es ist eine merkwürdig zweischneidige Angelegenheit. Einerseits ließe sich die Geschichte der technologischen Entwicklung wahrscheinlich halbwegs plausibel als Geschichte der Wartezeitverkürzung erzählen. Warten, bis das Reiseziel erreicht, die Nachricht übermittelt, die Ernte eingefahren, die Behausung warm, das Nahrungsmittel gar, die Wäsche trocken, die Wahl ausgezählt, das Kriegsziel zerstört, der Rohstoff gefördert, das Abbild produziert, der Text vervielfältigt oder das Computerspiel geladen ist; alle Prozesse von Dauer haben Quantensprünge an Beschleunigung hinter sich. Andererseits wäre die moderne Ökonomie kaum denkbar, wenn nicht überall auf das reklamebedingte Empfangen von Konsumbedürfnissen gewartet werden müsste. Der Computerspieler fragt sich, warum der Ladebildschirm nur selten Werbefläche ist. Ist es reine Nettigkeit der Entwickler, dass hier meist hilfreiche, unterhaltsame Informationen oder atmosphärische Präludien die Wartezeit vertreiben? Oder gibt es einen bestimmten Ethos, eine Etikette, die den unlauteren Umgang mit wartendem Bewusstsein verbietet?

Indes hat die Galerie der Gegenwart einen Weg gewählt, der sich nicht entscheiden muss zwischen ästhetischer Kritik und poetischer Ästhetisierung des Wartens. Tobias Rehbergers Rauminstallation, die als Atrium zur Ausstellung fungiert und den sonst eher am Ende zu erwartenden Lesebereich an den Anfang setzt, lässt manche Sonntagnachmittag-Besucher direkt wieder kehrtmachen, weil sie den Eingang zu den weiteren Räumen nicht sofort finden. Über solche Ungeduld des unversierten Publikums mögen Eingeweihte anfangs noch amüsiert sein, nicht ahnend, dass auch auf ihre Fäden eine Probe zukommt. Jedem einzelnen Exponat ist eine ausführliche Texttafel vorgeschaltet. Ein Zeichen für den hohen Stellenwert der Vermittlung und im Prinzip nicht verkehrt. (Andere Kuratoren des Hauses handhaben das genau umgekehrt. In der Abteilung Malerei des 19. Jahrhunderts ist jede title card ausnahmslos hinter dem Exponat angebracht, zumindest sofern man die konventionelle Leserichtung voraussetzt. Vermutlich unbewusst befolgt dieser Unterschied das Klischee von der Kommentarbedürftigkeit moderner Kunst. Als wären die Empfindungen, aus denen heraus Menschen vergangener Epochen Kunst schufen, für alle evident und nachvollziehbar, der Zugang zu den Medien, Gestaltungsprinzipien und Themen der eigenen Zeit dagegen völlig verstellt.) Ich gehöre zu denen, die nicht anders können, als jeden Text fleißig durchzulesen, schließlich will ich ja das umfassende Bild. Schnell muss ich feststellen, dass diese Texte nicht für mich geschrieben sind. Sie halten nicht die Informationen bereit, die mich interessieren würden, und wenden sich offenbar an ein Publikum, das mich nicht einschließt. Ich könnte das ignorieren, ohne einführende Lektüre vor die Werke treten, ihre Merkmale mit meinen Kriterien unvermittelt in Abgleich bringen, aber der Eifer will nichts auslassen. Der Millennial in mir, der Aufmerksamkeit nur als prekären Zustand kennt, will das sinnliche Spektakel sofort, will ohne lästigen Prolog eintauchen in das, was Kant das freie Spiel der Verstandeskräfte genannt hat (Kant war zum Glück kein Kunstkritiker). Aber vor dem Spiel winkt wieder und wieder der Ladebildschirm. Ich mahne mich zur Disziplin und strapaziere meine Frustrationstoleranz, suche die Informationsnadel im Beschreibungshaufen, schließlich bin ich nicht das UT-Kid, muss das aushalten können, das Effizienzparadigma darf nicht auch noch die Sphäre der Kunst annektieren. Vielleicht ist es nur eine besonders gefinkelte rezeptionsästhetische Strategie, mich die Biopolitik des Wartens am eigenen Leib spüren zu lassen. Oder Anklage an meine Hybris, alles von selbst zu verstehen. Oder ein expectational turn in der Kunstvermittlung? Wäre dies ein Computerspiel, wüsste ich die Lösung. Eine Escape-Taste, einen A-Knopf für eine Escape-Taste!

Die Kunst des Wartens
Podiumsdiskussion zum Thema Warten in der Literatur.

mit: Prof. Dr. Annette Keck (Germanistin, Professorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Gender Studies und Kulturtheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität, München), "Fadenscheinige Machwerke. Zur Kunst des Wartens"

Prof. Dr. Martin Schäfer (Professor für Neuere deutsche Literatur mit einem Schwerpunkt Theaterforschung, Universität Hamburg), "Schwelle zu großen Taten. Warten auf die Eingebung"

Dr. Daniel Kazmaier (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Frankophone Germanistik der Universität des Saarlandes, Saarbrücken), "Warten in Serie(n). Von Episoden, Folgen und Staffeln".

Eine Kooperation mit dem Warburg-Haus, Hamburg, zum Schwerpunktthema »Latenz in den Künsten«.

Annika Kahrs
Chim Canh

Two Channel Video Installation, 2014 HD-Film, Farbe, Ton (9 + 21 min.)

Part 1 of 2

Courtesy the artist & Produzentengalerie Hamburg

Die Arbeit Chim Canh besteht aus zwei Projektionen. In der ersten Projektion sieht man Besitzer verschiedener Singvögel, die sich in der Innenstadt Hanois, Vietnam, treffen um ihre geliebten Tiere gemeinsam zu betrachten und sich über sie auszutauschen. In mehreren Einstellungen werden solche Orte und Situa- tionen portraitiert, die sich tagtäglich ereignen und vor allem als sozialer Treffpunkt dienen. In der zweiten Projektion treten die Vogelbesitzer in verschiedenen Interviews nun direkt mit dem Betrachter in Kontakt. Inständig versuchen sie ihre Sichtweise zu vermitteln.

Was genau sie erzählen und beschreiben, kann der Betrachter nur durch den Tonfall, die Gestik und das Verhalten erahnen. Denn das gesprochene Vietnamesisch wird nicht übersetzt. In der filmischen Arbeit Chim Canh liegt der Fokus auf dem Beobachten und der Interpretation unterschiedlicher Kommunikationsebenen, sowohl bei den Protagonisten des Films als auch beim Betrachter selbst. Aus den Singstimmen der Vögel, den Unterhaltungen der Besitzer untereinander, der direkten Kommunikation mit dem Betrachter und wiederum den Beobachtungen aller Situationen wird ein dichtes Feld geschaffen, in dem die benannten Ebenen um sich selbst kreisen, sich abwechseln, gar zeitgleich nebeneinander bestehen und vom Betrachter immer wieder aufs Neue lokalisiert und wiederum gedeutet werden müssen.

The work Chim Canh is comprised of two projections. In the first, the viewer sees owners of various singing birds who meet in the centre of Hanoi, Vietnam, in order to observe together their beloved creatures and to swap stories about them. Across multiple settings, such places and situations are portrayed. These occur on a daily basis and serve, above all, as social meeting points. In the second projection, the bird owners now come into direct contact with the viewer through various interviews. Imploringly, they try to put across their points of view. Exactly what they tell and describe can only be guessed at by the viewer by way of their tone, their gesture, and their manner, as the Vietnamese that is spoken is not translated.

In the filmic work Chim Canh, the focus lies in observation and the interpretation of different levels of communication, both in terms of the film‘s protagonists, but also of the viewer. From the singing voices of the birds, the conversations between the owners, the direct communication with the viewer, and in turn, the observations of all situations, a dense field is created in which the above-mentioned levels revolve around themselves, alternate with one another, even exist next to one another and must be continually localized and, in turn, interpreted by the viewer.

Vier Statements und ein anregendes Gespräch.

Auf welche Weise prägt das Warten den Alltag und die Existenz des Menschen? Können wir die Fähigkeit zu warten erlernen? Macht Warten krank?

Ein Gespräch mit:

Dr. Andreas Göttlich: Soziologe, Projektleiter des DFG-Projekts "Warten. Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens", Universität Konstanz

Mirco Kreibich: Schauspieler, u.a. „Warten auf Godot“, Thalia Theater, Hamburg

Dr. Bettina Lamm: Entwicklungspsychologin, u.a. kulturvergleichende Untersuchungen zur Entwicklung und Sozialisation der Fähigkeit zu warten, Universität Osnabrück

Pater Frido Pflüger SJ: Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum Berlin, Vertreter des Erzbistums in der Berliner Härtefallkommission, Vertreter im Kath. Forum „Leben in der Illegalität“

Moderation: Dr. Melanie von Bismarck, freie Kulturjournalistin und Autorin

Begrüßung: Dr. Brigitte Kölle, Kuratorin der Ausstellung

Der ewige Augenblick.
David Claerbout und das Warten.
Raphael Dillhof

"Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, dass ich weiß, dass, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.“ Augustinus, Confessiones

Passiert da etwas? Hat sich das Bild bewegt? Nur ganz allmählich drängt sich dem Betrachtenden vor Claerbouts gigantischer Projektion im dunklen Ausstellungsraum in der Hamburger Kunsthalle der Verdacht auf, es handle sich bei dem Gezeigten um mehr als eine simple Farbfotografie. Wer zu rasch vorbeigeht an der freundlich in die Kamera blickenden Gruppe afrikanischer Arbeiter, offensichtlich von einem Regenguss unter einer Brücke festgehalten, der bliebe vielleicht bei der Meinung. Nur wer sich Zeit nimmt, bemerkt das leichte Schlingern der Kamera, die fast unmerklich, mit schwindelerregender Langsamkeit um die prekäre Warteszene herumkreist. Eine in einer Zeitung gefundene Fotografie ist es, die der belgische Künstler da mittels Computermanipulation zur dreidimensionalen Betrachtung freigibt: Oil Workers (from the Shell Company), returning home from work, caught in torrential rain. Aus der statischen Fotografie der Männer wird durch die Kamerafahrt ein bewegtes Video. Sie werden allansichtig, treten aus der Fläche hinaus. Der Augenblick ist lebendig geworden. Oder?

Nicht ganz. Denn während die Kamera ihre Runden zieht, sind die Oil Workers selbst wie versteinert: Die Menschen, die Motorroller, das Wasser, das sich in einer großen Lache am Vordergrund sammelt – nichts bewegt sich. Und so irritiert der Widerspruch zwischen der Wiederbelebung des Augenblicks und dem Stillstand der Subjekte.  Wer Claerbouts Kunst kennt, der traut seinen Bildern schon lange nicht mehr. Ein einzelner kurzer Augenblick im Schwebezustand, zum Greifen nah, aber angehalten, in der augustinischen Ewigkeit festgehalten – diesen Modus Operandi kennt man bereits aus der „Sections of a Happy Moment“-Serie (2007) des belgischen Künstlers. Nicht auf einem einzigen Foto spielt sich da die Handlung ab – ein kindliches Fußballspiel in Algier etwa, unterbrochen von einem Schwarm Möwen, sondern auf bis zu 600 einzelnen Fotografien, aufgenommen aus verschiedensten Distanzen, aus jeder Perspektive, hintereinander in einer Slideshow abgespielt. Betrachtet man auch diese Projektionen uninformiert, scheint da zunächst eine ganz normale Slideshow von mehreren Fotos einer länger dauernden Szene abzulaufen. Sieht man weiter zu, bemerkt man, dass auch diese Handlung nicht weiterläuft, sondern dass sich im Gegenteil überhaupt nichts bewegt: Nicht einmal die kleinste Geste, die kleinste Position, nicht einmal die Mimik verändert sich. Und so tritt ein Gefühl des Befremdens, der Beklemmung ein: Der spontane Augenblick wird musealisiert, geröntgt, bereit, wie ein Toter seziert zu werden: „The playfulness of the moment becomes like heavy, cast matter“1, wie Claerbout in Bezug auf eine weitere Arbeit schreibt.

Der Stillstand der Subjekte straft die dynamische Kamera Lügen. Was zunächst also irritiert, ist der offensichtliche Fälschungscharakter von Claerbouts Arbeiten. Unmöglich hätten alle Bilder gleichzeitig gemacht worden sein können: Zu flüchtig wäre dieser Moment, um ihn wieder und wieder perfekt zu reinszenieren (oder wo wären die Hunderte Kameras?); unmöglich hätten auch die Oil Workers für die lange Kamerafahrt in gleicher Pose, gleicher Miene innehalten können. Ein einzelnes Foto kann die Realität des vergangenen Moments glauben machen, die Bewegung erreicht allerdings das Gegenteil: Während das einzelne Foto der wartenden Arbeiter als authentisches Zeitdokument gelten darf, lässt die Bewegung herum, das Um-die-Menschen-Kreisen, nur auf eine inszenierte, manipulierte Situation schließen. Die scheinbare „Erweiterung“ der Realität, die Claerbouts Arbeiten stets im ersten Moment suggerieren, führt sich ad absurdum. Und so lässt uns die offensichtliche Fälschung nicht nur an der Vergangenheit, sondern auch an der Gegenwart zweifeln. Es scheint paradox – was auf dem Vorbild der Fotografie so normal ist, kann schließlich, in das „zeitbasierte Medium“ des Videos übersetzt, Verstörung auslösen. Es ist ein „Gefühl der Desillusionierung“2, das sich einstellt: "Indem Claerbout die Manipulierbarkeit des Bildes demonstriert, erinnert er sein Publikum merkwürdigerweise daran, dass es dem Medium, mit dem er arbeitet, längst ausgeliefert ist.“3

So zumindest der Teil der Rezeption, der in Claerbouts Arbeiten bloß Liebe zu Manipulation und damit Effekthascherei, simple Computertricks sieht. Aber noch viel mehr als das Medium des projizierten Bildes ist der Agent, dem der oder die Betrachtende ausgeliefert ist, die Zeit selbst – die Claerbout in seinen ultralangsamen „Meditationen“ schließlich zum eigentlichen Thema macht. 

Denn bei allem Stillstand im Bild: Gerade erst durch die tatsächliche Zeit, welche beim Betrachten vergeht, kann die Arbeit ihre Kraft entwickeln: Beklemmung löst so keineswegs das Gefälschte aus, sondern im Gegenteil das offensichtlich Reale an den Filmen: ihre Dauer. Es ist gerade dieses Verschwimmen, das Dahinziehen, das Zerlaufen – das beharrliche Nicht-Vorwärtslaufen, das qualvoll-langsame Darstellen von gestoppter Zeit, welche das Ticken der imaginierten Uhr des Ausstellungsraums wieder in den Horizont rückt (oder umgekehrt: Gerade die real verstreichende Zeit beim Betrachten des Videos macht die „Oil Workers“ zur meditativen Erfahrung des Zeitverstreichens). Dass Claerbouts Videos für Betrachter, die nur wenige Minuten auf die Videos sehen, gar nicht erfassbar sind, dass sie sich nur beim längeren Verharren vor dem Schirm erschließen, könnte man hier als Beweis anführen: „Probably 95 % of spectators miss the meaning of the works“4, meint Claerbout, wenn er festhält, dass man beim oberflächlichen Zusehen kaum zum Kern des Werks durchdringt: „Only after about 15 Minutes can something be triggered.“ Aber noch weiter geht Claerbout, wenn er seine Videos mit einer besonderen Eigenschaft ausstattet: Weder die „Oil Workers“ noch die „Sections“ haben einen erkennbaren Anfang oder einen erkennbaren Schluss. Die im ewigen Loop laufenden Videos erlösen den Betrachtenden niemals, sind damit von der Wirklichkeit völlig entkoppelt. (So scheint Claerbout am Ende auch etwas über das Museum selbst zu sagen.) Weit radikaler, als andere künstlerische Langzeitfilme – Andy Warhols „Empire“, bei dem die Kamera acht Echtzeitstunden auf das Empire State Building gerichtet ist, Mark Formaneks „Standard Time“, Christian Marclays „The Clock“ – sind, die das Verstreichen der realen Zeit in ihre Arbeiten integrieren, dreht Claerbout das Gefüge des „zeitbasierenden Mediums“ Video komplett um. Während auf der Uhr des Ausstellungsbesuchers zehn, fünfzehn Minuten des bewegten Bildes verstreichen, sind die Oil Workers ihrem Ziel keinen Augenblick nähergekommen – und werden es auch niemals sein. Es ist, als hätte Claerbout das menschliche Zeitempfinden selbst zeigen wollen, als habe er das Problem der „realen“ und erlebten Zeit gelöst, indem er beide in eins fallen lässt – und so dem Gefühl der Ewigkeit auf unheimliche Weise nahekommt. Keineswegs zufällig sind es schließlich Wartende, die Claerbout für seine Arbeit ausgewählt hat. Passiert da etwas?

1 Christine Van Assche (Hrsg.), David Claerbout – Shape of Time. Ausstellungskatalog, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Centre Pompidou, JRP Ringier, Zürich 2008

2 Peter Eleey, Achronische Utopien, erschienen in: Secession (Hrsg.): David Claerbout – diese Sonne strahlt immer (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Secession, 3. Mai bis 17. Juni 2012)

3 Ebenda

4 Van Assche 2008

Ursula Schulz-Dornburg
Im Gespräch:

Das Gespräch zwischen Ursula Schulz-Dornburg und Dr. Katharina Hoins fand am 02.04.17 in der Hamburger Kunsthalle statt.

Vier Statements und ein anregendes Gespräch.
Runder Tisch mit Dr. Andreas Göttlich, Jens Harzer, Dr. Bettina Lamm und Pater Frido Pflüger SJ

4. Mai 2017, 18 Uhr, Werner-Otto Saal, Hamburger Kunsthalle

Auf welche Weise prägt das Warten den Alltag und die Existenz des Menschen? Können wir die Fähigkeit zu warten erlernen? Macht Warten krank? Wie nähern wir uns dem Warten aus verschiedenen Perspektiven.

Dr. Andreas Göttlich: Soziologe, Projektleiter des DFG-Projekts "Warten. Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens", Universität Konstanz

Jens Harzer: Schauspieler, u.a. „Warten auf Godot“, Thalia Theater, Hamburg

Dr. Bettina Lamm: Entwicklungspsychologin, u.a. kulturvergleichende Untersuchungen zur Entwicklung und Sozialisation der Fähigkeit zu warten, Universität Osnabrück

Pater Frido Pflüger SJ: Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum Berlin, Vertreter des Erzbistums in der Berliner Härtefallkommission, Vertreter im Kath. Forum „Leben in der Illegalität“

Moderation: Dr. Melanie von Bismarck, freie Kulturjournalistin und Autorin

Begrüßung: Dr. Brigitte Kölle, Kuratorin der Ausstellung

Mit Unterstützung der Freunde der Kunsthalle e.V.

Teilnahme: 7,50€/5€ erm.

Phuong-Dan
51 and One Thirty-Five

51 and One Thirty-Five is an auditive reflection on waiting. It was recorded in March 2017 with three record players and a Bastl Instruments Micro Granny using fieldrecordings, samples and works/music by Nika Breithaupt, Moebius & Tietchens, C.W. Vrtacek, Karlheinz Stockhausen, Carla Dal Forno, Conrad Schnitzler, Scheich in China, Pump, Tuxedomoon & Cult With No Name, Phillip Schulze, Splitter Orchester, Don´t DJ, Pornosect, Richard von der Schulenburg, Richard Chartier, Jutta Koether, Martin Moritz, Moebius & Plank, Bruno Spoerri, Indiscreet, Roedelius Schneider, Benjamin Lew/ Steven Brown, Konrad Sprenger, Emily Wardill/ Marc Shearer, Aymeric de Tapol, Chris and Cosey, Steven Brown, Litüus,Thomas Baldischwyler and Henrik Plenge Jakobsen.

Link zu Soundcloud

Havarie, 2016
HAVARIE wird mit dem Preis der Deutschen Filmkritik als "Bester Experimentalfim" ausgezeichnet.

Der Film ist Teil der Ausstellung WARTEN.

Buch Merle Kröger, Philip Scheffner Regie Philip Scheffner Kamera Terry Diamond, Bernd Meiners Ton Pascal Capitolin, Volker Zeigermann Produzentinnen Merle Kröger, Caroline Kirberg Koproduzenten Meike Martens, Marcie Jost, Peter Zorn Redaktion ZDF/ARTE Doris Hepp Eine Produktion von pong In Koproduktion mit Blinker Filmproduktion, worklights media production sowie mit ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE.

Friederike Gräff
Lesung:

"Warten - Zur Erkundung eines ungeliebten Zustands"

Die Lesung fand am 06.04.2017 in der Hamburger Kunsthalle statt.

Wir aber sind im Ungewissen.
Frauen, die auf Männer warten, oder: Ovids »Heroides« als ein poetisches Laboratorium des Wartens
Nina Lucia Groß

Penelope - Statue in the Vatican, Rome - Project Gutenberg License

Penelope - Statue in the Vatican, Rome - Project Gutenberg License

Penelope - Statue in the Vatican, Rome - Project Gutenberg License

»Schriftlich erwidre mir nichts!«, heißt es gleich zu Beginn von Penelopes Brief an Odysseus in Ovids »Heroides«. Fast 20 Jahre ist Odysseus mittlerweile fort; zehn Jahre dauerte der Trojanische Krieg, ebensolange Odysseus’ Irrfahrten. Seine Gattin Penelope wartet. Tagsüber hält sie sich aufdringliche Freier vom Leib und webt ein Totentuch, in der Nacht löst sie das Gewebte wieder auf. Ihr Brief an Odysseus ist der erste von 15 fiktiven Briefen, die Ovid in den »Epistulae Heroidum«, kurz »Heroides«, zusammenfasst, die erste von 15 Elegien größtenteils mythologischer Heldinnen an ihre fernen Geliebten. Nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Vergils »Aeneis« füllt Ovid mit den »Heroides« Leerstellen des männlich dominierten Heroenmythos. Es kommen Frauen wie Hermione oder Briseis zu Wort, die in anderen Texten nahezu wortwörtlich stumm blieben, und von bekannteren Heldinnen wie Penelope, Medea, Dido oder Ariadne wird eine neue Innenansicht des Mythos vermittelt (*). Die Briefe bleiben unbeantwortet, durch den unbekannten Aufenthaltsort ihrer Adressaten oft sogar unzustellbar, sie leiten keinen Dialog ein, erwarten keine Reaktion – »Schriftlich erwidre mir nichts!« – vielmehr sind sie ein gerichteter Monolog, eine Standortbestimmung ihrer Protagonistinnen, die sich in der Abwesenheit ihrer Geliebten neu verorten. Heißt es in Roland Barthes’ »Fragmente einer Sprache der Liebe«, dass sich die Abwesenheit des Liebenden »nur aus der Position dessen aussprechen lässt, der dableibt“, und dass sich „das immer gegenwärtige Ich (...) nur angesichts eines unaufhörlich abwesenden Du« konstituiert (Barthes, S. 27), so bleiben auch die männlichen Adressaten der »Heroinen«-Briefe selbst und gerade in ihrem Schweigen omnipräsent. An sie sind die Briefe gerichtet, sie sind Fluchtpunkt der Überlegungen und Anklagen, der Sehnsucht, Trauer und Wut der Briefautorinnen. Christine Walde nennt die »Heroides« »ein poetisches Laboratorium des Themas ›Verlassene Frau‹« (Walde, S. 126) – genauso kann man die Briefsammlung auch als ein poetisches Laboratorium des Wartens begreifen.

Penelope wartet in Ithaka auf Odysseus, die thrakische Königstochter Phyllis wartet auf den Theseus-Sohn Demophon, den sie auf seinen Reisen gastfreundlich aufnahm und der ihr ein Wiedersehen versprach, und die Kriegsgefangene Briseis wartet auf die Rettung durch ihren Sklavenherren Achilleus. Hypsipyle wartet auf die Rückkehr der Argonauten samt ihres Geliebten Jason, der inzwischen schon mit Medea vermählt ist, und die von ihrem Vater unfreiwillig mit Neoptolemos verheiratete Hermione hofft auf die Hilfe ihres ersten Ehemanns Orestes, der derweil schon längst dem Wahnsinn verfallen ist. Deïaneira erwartet die Rückkehr ihres untreuen Herakles und Ariadne, die von Theseus im Exil auf der Insel Naxos zurückgelassen wurde, sitzt in Einsamkeit und Langeweile fest. Die frisch verheiratete Laodameia wiederum wartet auf ihren in den Krieg gegen Troja gezogenen Protesilaos und Hypermestra, die von ihrem eigenen Vater ins Gefängnis verbannt wurde, wartet dort auf Befreiung oder Tod.

Temperaturen des Wartens Die »Heroides« sind in ihrer Diversität des Liebens, dem psychopathologischen und erotischen Interesse, der Ablehnung einer Verherrlichung ihrer Helden und Heldinnen und der Umkehrung einer männlichen Sprechposition ein radikaler Gegenentwurf zur Rhetorik und Dogmatik der augusteischen Zeit. Als ein politisches Ablenkungsmanöver nur kann da Ovids Entscheidung verstanden werden, gerade Penelope, augusteisches Musterbeispiel der treuen Ehefrau, den ersten Brief zu widmen. Das Warten ist die Rolle ihres Lebens; ihre Funktion im festgeschriebenen Mythos der Antipol zum ewig herumirrenden Odysseus – der stabil bleibende Punkt am Horizont, der ausharrt und wartet, bis die Odyssee ein Ende findet. Sie ist ihrer Bestimmung nach, wie Barthes sich selbst als Wartenden beschreibt, »sesshaft, unbeweglich, verfügbar, in Erwartung, an Ort und Stelle gebannt« (Barthes, S. 27). Sie ist der Stillstand, der die Bewegung, den Zustand der Reise überhaupt erst möglich und notwendig macht – integraler Bestandteil jeder Irrfahrt ist schließlich das anvisierte, das erträumte, das prophezeite und immer wieder verpasste Ziel. In der Endlosschleife ihrer Webarbeit – das am Tag gewebte Stück Stoff löst sie in der Nacht wieder auf – vollzieht sie das Auf-der-Stelle-Treten des Wartens und die Frustration der Irrfahrt performativ nach. Auch wenn Penelope in Ovids Brief schon langsam ungeduldig wird, so steht für sie ihre Verpflichtung als Wartende außer Frage; sie wird so lange in ihrem Zwischenzustand verharren, bis die Reise in ihrem Hafen ein Ende findet, bis sich ihr Warten eingelöst hat; sie Odysseus wieder empfangen kann.

Nicht so Phyllis. Die Königstochter Thrakiens hatte Demophon, als dieser auf seinem Rückweg aus dem Trojanischen Krieg an ihrer Küste strandete, bei sich aufgenommen, ihn versorgt und schließlich geheiratet. Nach der Hochzeit kehrt Demophon noch einmal in seine Heimat Athen zurück, verspricht aber seine baldige Rückkehr – »Phyllis, denke daran, auf deinen Demophon zu warten!« Drei Monate nach dem verabredeten Zeitpunkt ist er immer noch nicht wiedergekommen und Phyllis schreibt ihren Brief:

»Soll ich denn auf dich warten, der du abfuhrst mit der Absicht, mich niemals wiederzusehen? Soll ich auf Segel warten, die es auf meinem Meer nicht geben wird? «

Phyllis unterstellt Demophon Betrug, er habe ihre Gastfreundschaft und Güte ausgenutzt, ohne je wirklich an eine Rückkehr zu denken. Sie will sich nicht länger der Lächerlichkeit des vergeblichen Wartens aussetzen; sollte er jemals zurückkehren, habe er mit dem Schlimmsten zu rechnen: ihre Abwesenheit.

»Es gibt da eine Bucht (...) mir kam der Gedanke, mich von hier aus in die unter mir liegenden Wogen zu stürzen, und da du nun mal nicht aufhörst, mich zu betrügen, wird es so kommen. Wenn ich hinuntergestürzt bin, sollen mich die Fluten an deine Küste tragen; dort sollst du mich unbestattet liegen sehen. (...) Du wirst auf meinem Grab als die verhasste Ursache meines Todes bezeichnet werden. Bekannt wirst du werden durch diese oder eine ähnliche Aufschrift: Demophon lieferte Phyllis, deren Gast er war und die ihn liebte, dem Tode aus, er war die Ursache ihres Todes, sie selbst bot die Hand dazu.«

Phyllis kündigt ihren Selbstmord an und ist damit nicht die Einzige der Heroinnen; sie setzt sich über Pflicht und Funktion des Wartens hinweg, indem sie sich selbst in die totale Abwesenheit begibt. Bei seiner Rückkehr soll Demophon nur von ihrer klagenden Absenz und seiner eigenen Schuld erwartet werden. Der Suizid als doppelter Regel- und Vertragsbruch wird so als ein Rückgewinn der Entscheidungsmacht in der scheinbar totalen Machtlosigkeit des Wartens zur Disposition gestellt. Die Ohnmacht der Wartenden und die Folter des Warten-lassens ist auch das Grundmotiv des Ariadne-Briefs. Von der Insel Naxos schreibt sie an Theseus, der sie dort in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurückgelassen hat.

»Was soll ich tun? Wohin soll ich eilen? Die Insel ist wüst. Ich sehe keine Spuren von Menschen oder Vieh. Jede Seite des Landes umschließt das Meer. Nirgends ein Seemann, und kein Schiff schickt sich an, durch die trügerischen Wogen zu segeln. (...) Versperrt ist mir zur Heimat der Weg – ich bin verbannt! (...) Nun denke ich nicht nur daran, was ich noch leiden muss und was eine verlassene Frau möglicherweise alles überhaupt leiden kann: Tausend Gestalten des Todes kommen mir in den Sinn, und der Tod selbst hat für mich weniger Schrecken als das Warten auf den Tod.«

Der Un-Ort der einsamen Insel bildet das räumliche Pendant der zermürbenden Warterei. Zwischen den Zeiten und zwischen den Orten festgehalten, wird Ariadne mit nichts als sich selbst zurückgelassen; in ihrem Schreiben geht es weniger darum, Theseus zur Rückkehr zu bewegen – daran glaubt sie selbst kaum noch –, sondern gegen die Verbannung selbst, das machtlose Warten auf einen einsamen Tod und die unfassbare Langeweile anzuschreiben. Eine ganz konkrete Handlungsunfähigkeit beklagt auch Laodameia, deren frisch vermählter Protesilaos in den Krieg gegen Troja gezogen ist, während sie mit schlechten Träumen und üblen Vorahnungen zurückbleiben musste.

»Soll ich tatsächlich selbst mit Purpur gefärbte Kleider tragen, während jener im Kampf unter den Mauern von Troia steht? Ich selbst soll mein Haar kämmen lassen, während sein Haupt die Last des Helmes trägt? Ich selbst soll neue Kleider, mein Mann aber wird harte Waffen tragen? Soweit ich kann, soll man von mir sagen, dass ich deine Mühen im Schmutz nachahme und dass ich diese Zeiten des Krieges in Trauer verbringen will.«

Das Kämpfen ist ihr versagt; zur Passivität gezwungen, bleibt ihr nur der Widerstand am Hof und die eigene Imagination, mit der sie im Laufe des Briefs die Schlacht nachvollzieht und sich aus Traumbildern und einer Wachsfigur Surrogate für den Abwesenden schafft. Laodameia wird in einem Schwebezustand zwischen Passivität und Aktionismus festgehalten, im Limbus zwischen Abschied, Hoffnung, Trauer und gefühlter Nähe – »aus dieser eigentümlichen Verzerrung erwächst eine Art unerträgliches Präsens; ich bin zwischen zwei Zeitformen eingekeilt, die der Referenz und die der Anrede: du bist fort (und darüber klage ich), du bist da (weil ich mich an dich wende).« (Barthes, S. 29–30)

Das Warten als Aktionsraum Die Briefe der Heroinnen füllen Leerstellen; nicht in einem bestimmten literarischen Vorgängerwerk, sondern vielmehr im Ablauf der betreffenden Geschichten und Mythologien selbst, im kulturellen Gedächtnis des antiken wie modernen Menschen. Dabei stehen die Briefe, wie Christine Walde es beschreibt, »an einer signifikanten Schaltstelle, an der noch keine endgültige Entscheidung getroffen oder noch eine Revision möglich ist« (Walde, S. 126), oder wie Gustav Seeck es bezeichnet, in einer Art Schwebezustand, in dem »[die] chronologische Folge von Vorgeschichte und gegenwärtiger Situation (...) aufgelöst und beides ineinandergeschoben [wird]« (Seeck, S. 449). Die Veränderung, das Potenzial der Möglichkeiten, durchdringt dabei auf mehrfache Art und Weise die Texte. Zum einen schlagen die Briefe – wenn auch nur andeutungsweise – tatsächliche Modifikationen des festgeschriebenen Mythos vor, bieten in den Wünschen und Forderungen der Heldinnen alternative Handlungsverläufe an, womit Ovid die normative Funktion von Literatur infrage stellt, wie sie insbesondere von den homerischen Epen, aber auch von Ovids Zeitgenossen Vergil ausgeübt wurde. Zum anderen verändern sich die Narrations- und Motivationsstrukturen der Erzählerinnen selbst, unterschiedliche Interessen und Empfindungen durchdringen sich in einem permanenten wechselseitigen Austausch; Trauer wird zu Wut, Wut wird zu Trotz, Flehen wird zu Drohung, Drohung zu Verführung, Verführung zu Gleichgültigkeit. Manche Briefe rufen zur Aktion auf oder sind selbst produktives Handeln – so gesteht Phädra in ihrem Brief dem Stiefsohn zum ersten Mal ihre Liebe – die meisten Briefe dienen aber eher »der sukzessiven Standortbestimmung« (Walde, S. 138) ihrer Sprecherinnen in einer unbestimmten Situation. Die Briefe sind eine Bewältigung des Wartens, das Briefeschreiben ein Rhythmisieren, ein Begreifen, ein Manipulieren des Wartens, das die Zeit verkürzt, Überblick und Handlungsmacht schafft und damit den Schwebezustand selbst zur Produktivität erklärt. Die Briefe schieben sich wie ein Platzhalter in die Narration der Geschichten, sie dehnen die Zeit, unterbrechen die Chronologie, deren Sinn und Zweck man zu kennen meint, und schaffen in dieser Verzögerung das Potenzial einer Abweichung. So wird das ziellose Warten als ein Ort der Selbst- und Neubestimmung lesbar; die Heldinnen finden in ihrem Auf-sich-selbst-gestellt-Sein zur eigenen Stimme – »die Sprache erwächst aus der Abwesenheit« (Barthes, S. 28) – und in der Ereignislosigkeit des Wartens zu neuen Forderungen und Motivationen. In der verzögernden Unterbrechung bekommt der spröde Mythos selbst schließlich Risse und lässt so ein Neudenken seiner Normen zu.

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(*) Wie Gustav Seeck 1975 gezeigt hat, bleibt es dabei nicht bei einer pseudo-psychoanalytischen Draufsicht des Autors Ovid, vielmehr behalten die Heldinnen in ihren Briefen selbst die intellektuelle Übersicht und Interpretationsgewalt. So sehen sie ihren Ohnmachten wie von außen zu, exzerpieren die Wirrnisse der eigenen Gedanken, Wünsche und Motivationen, sie sprechen – und nähern sich damit einem literarischen »Ich« an, das dem Charakterbegriff der neuzeitlichen literarischen Konventionen entspricht. Nichtsdestotrotz bedarf es einer Problematisierung dieser Sprechposition, zumindest einer differenzierten Lektüre unter gendertheoretischen Kriterien, denn zweifelsohne sind die Briefe ein Beispiel dessen, was Elizabeth Harvey 1992 »transvestite ventriloquism« nannte; Ovid ein Bauchredner, der unweigerlich seine eigenen Imaginationen und die gesellschaftlichen Konstruktionen einer »Weiblichkeit« auf die Stimmen seiner Erzählerinnen überträgt.

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Literatur:

Ovid: Werke in zwei Bänden. Band 2. Aus dem Lat. übers. von W. Hertzberg, E. F. Mezger, A. Berg, Berlin / Weimar 1982.

Ovid: Heroides. Briefe der Heroinen. Übersetzt und hg. von Detlev Hoffmann, Christoph Schliebitz und Hermann Stocker, Stuttgart 2000.

Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe [Fragments d'un discours amoureux, 1977]. Übersetzt von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a. Main 2012, hier: Der Abwesende, S. 27–32, und Die Erwartung, S. 97–100.

Elizabeth Harvey: Ventriloquized Voices. Feminist Theory and English Renaissance Texts, London 1992.

G. A. Seeck: Ich-Erzähler und Erzähler-Ich in Ovids »Heroides«. Zur Entstehung des neuzeitlichen literarischen Menschen, in: E. Lefevre (Hrsg.), Monuraentum Chiloniense. Studien zur augusteischen Zeit. Kieler Festschrift für Erich Burck zum 70. Geburtstag, Amsterdam 1975, 436–475.

Christine Walde: Literatur als Experiment? Zur Erzähltechnik in Ovids Heroides, in: Antike und Abendland, 46, 2000, 124–138.

Mother and Child Nr. 11

Am 16. März 2017 wurde der Künstler Zwelethu Mthetwa in Kapstadt (Südafrika) des Mordes an der 23-jährigen Prostituierten Nokuphila Kumalo für schuldig befunden. Aus Respekt vor dem Opfer und seiner Familie hat sich die Hamburger Kunsthalle dazu entschlossen, das Werk Mother and Child Nr. 11 aus der Ausstellung zu entfernen.

On 16 March 2017, the artist Zwelethu Mthethwa was found guilty in Cape Town (South Africa) of the murder of the 23-year old sex worker Nokuphila Kumalo. Out of respect for the victim and her family, the Hamburger Kunsthalle decided to remove the work Mother and Child No. 11 from the exhibition.

Ursula Schulz-Dornburg
Im Gespräch mit ...

Sonntag. 02.04. 14 Uhr

Ursula Schulz-Dornburg (Künstlerin, Düsseldorf), moderiert von Dr. Katharina Hoins (Warburg-Haus, Hamburg)

Ursula Schulz-Dornburg findet ihre Motive oft fernab von Zuhause, in vergessenen Landschaften – an der jordanischen Grenze zu Saudi-Arabien beispielsweise, wo ruinöse Bahnhofsgebäude an die ehemalige Wegeführung einer langen Bahnlinie erinnern, die zu Beginn des 20.

Jakob Engel
Im Gespräch:

"Wunder des ..., 2015"

Das Gespräch fand am 23.03.2017 in der Hamburger Kunsthalle statt.

Aleen Solari
Im Gespräch:

"Robyn, 2017"

Das Gespräch fand am 23.03.2017 in der Hamburger Kunsthalle statt.

Jakob Engel und Aleen Solari
Im Gespräch mit ...

Donnerstag. 23.03. 18 Uhr

Jakob Engel und Aleen Solari (Künstler_in, Hamburg), moderiert von Dr. Mechthild Achelwilm. Im Eintritt enthalten. Treffpunkt: Foyer

Jochen Kuhn - Filme im Metropolis
Kurzfilmprogramm I & II / Fisimatenten

Jochen Kuhn - SONNTAG NULL, Diesen Sonntag bleibt der Protagonist lieber im Bett. (2013), 9'46'', Digital Video (DCP/HDCam/DVD), s/w, Format 16:9

Jochen Kuhn - SONNTAG NULL, Diesen Sonntag bleibt der Protagonist lieber im Bett. (2013), 9'46'', Digital Video (DCP/HDCam/DVD), s/w, Format 16:9

Jochen Kuhn - SONNTAG NULL, Diesen Sonntag bleibt der Protagonist lieber im Bett. (2013), 9'46'', Digital Video (DCP/HDCam/DVD), s/w, Format 16:9

Dienstag. 21.03. 19 - 23 Uhr & Mittwoch. 22.03. 19 - 21 Uhr.

Veranstaltungsort: Metropolis Kino, Kleine Theaterstraße 10, Eintritt: 7,50€ / erm. 5€ für Freunde der Kinemathek und Freunde der Kunsthalle

Filmprogramm von und mit Jochen Kuhn. In der Reihe kinelab hamburg verschafft das METROPOLIS unkonventionell erzählten, experimentierfreudigen Filmen einen Platz auf der Leinwand und bietet Raum für Gespräche über Film und seine Produktionsbedingungen. Begleitend zur Ausstellung »Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit« in der Hamburger Kunsthalle vom 17.2. bis 18.6.2017 zeigen wir im März Filme des Künstlers und Filmemachers Jochen Kuhn. Während seines Kunststudiums in Hamburg realisierte er Projekte im Bereich Film, Malerei, Drehbuch, Filmmusik und Fotografie. Seit 1991 ist er Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg und Leiter des Fachbereichs Filmgestaltung.

Luise Schroeder
27. Januar 2008

2-Kanalprojektion, HD-Video, 7:31 min., 2008

© & Courtesy: Luise Schroeder

Nutzer ja, verhalten nein: Im Rausch der Empörung
Lasse Nehren

Warten lässt sich auf vieles. Auf Inspiration etwa. Nun verhält es sich mit Inspiration aber nicht grundlegend anders als mit Liebe oder Fremdstolz: Man muss ihre Existenz keineswegs dem Zweifel anvertrauen, um ihre Adelung zum Konzept für fragwürdig zu halten. Wer von Inspiration ergriffen wird, eilt sich gern zu betonen, wie essenziell, ja unabkömmlich die vorangegangene Episode des kontemplativen Harrens gewesen sei. Und hofft inständig, nicht für das evasive Verquastungsmanöver haftbar gemacht zu werden, das die Verwendung dieser vom Ufer des Esoterischen abgeschöpften Vokabel darstellt: Zunächst einmal ist der Verweis auf die Abwesenheit von Inspiration als Ausflucht fürs Nichtstun nämlich nichts weiter als eben dies: Nichtstun.

Ich warte auf Inspiration, sagt der Autor. Du tust gar nichts, antwortet die Lektorin. Ich warte auf den Bus, sagt Frau Schirrmacher. Ja, das tun Sie, bestätigen die Mitwartenden unisono, ehe sie ein kollektives Kopfschütteln orchestrieren: Auf nichts ist mehr Verlass; schon gar nicht auf die städtischen Verkehrsbetriebe.

Nicht nur auf vieles lässt sich warten – auch auf viele Weisen. Grundsätzlich gilt: Je trivialer der Kontext, in dem gewartet wird, desto ausgeprägter die Hysterie. Internetanbietern und Paketdiensten schlägt regelmäßig der Scheuklappenzorn solcher Menschen entgegen, denen man schmeicheln würde, nennte man sie wohlstandsverwahrlost. Manch einer wird es für gestrig befinden, dem Komiker Louis C.K. zuzustimmen, wenn er fluchenden Smartphonenutzern entgegnet, dass noch das schlechteste Mobiltelefon der Welt ein Wunderwerk sei. Diesen Menschen sei entgegnet: Zuweilen ist das Bewusstsein für ein Gestern durchaus befriedend. Wer jeder dem zwangsläufig nur mehr kleiner werdenden Spielraum abgetrotzten Errungenschaft nur so lange Wertschätzung entgegenbringt, wie sie absolut störungsfrei funktioniert, outet sich nämlich nicht nur als undankbar – sondern bebürdet sich obendrein mit einer Wut, die in ihrer evolutionsrelationistischen Überheblichkeit so unangebracht wie unnötig ist. Doch wie überall gilt: Woran Mensch sich gewöhnt, das erwartet Mensch. Und kein Bit pro Sekunde weniger. Der moderne Mensch ist ein ungeduldiger Mensch: gehetzt, drängelnd, kundendienstscheltend. Zeit ist kostbar, das weiß der moderne Mensch, ergo ist sie zu nutzen, nicht zu verschwenden. Jede Sekunde des Wartens ist eine Sekunde, die die gefräßige Vergangenheit aus unserer Zukunft beißt. Ungenutztes Potenzial. Verschwendung. So weit, so pathetisch. Und doch handelt es sich bei den in Tweets und Raucherpausen untergebrachten Lamenti der notorischen Alltagsopfer nicht etwa um Carpe-diem’sche Mahnungen. Zwar sind Ohnmacht und Subordination zentrale Faktoren, wenn es um des (modernen) Menschen Unfähigkeit geht, Wartezeiten zu akzeptieren, dabei nimmt die Zeit aber nur vermeintlich die Rolle des Gegenspielers ein.

Zunächst allerdings zum Wesen der Ungeduld. Des Menschen Neigung zu ihr ist als Erkenntnis etwa so neu und erquicklich wie die, dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich viel und laut klagen. Sehr wohl aber ist es hilfreich, sich dazu eines in aller Deutlichkeit ins Bewusstsein zu rufen: Die Qualität von Ungeduld ist maßgeblich von den Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung abhängig. Wer die Zeit und die Geistesgegenwart besitzt, sämtliche digitalen und/oder sozialen Kanäle mit seinen Elegien zu bespielen, dessen Ungeduld geht in die Breite, nicht in die Tiefe. Sie behauptet, intensiv zu sein – ist aber lediglich extensiv. Jemand, der für ein Attest zwei Stunden im Warteraum einer Arztpraxis zubringt, wird mehr Zeit darauf verwenden, sich die Misslichkeit seiner Lage vor Augen zu führen als die Alleinerziehende mit Vollzeitjob, deren Antrag auf Zuwendung den Schwebezustand seit Wochen nicht verlassen hat. Im Gegensatz zum Leid, so das unbewusste Mantra der ewigen Nörgler, ist Lautstärke messbar.

Warten zu können ist Luxus. Luxus gebiert gelogene Bedürftigkeit.

Eigentlich interessant ist allerdings nicht das Verhältnis vom Ungemach zu dessen Bejammern, sondern die Frage, was die Grade gefühlter Dringlichkeit über des Menschen Kompensationsapparat aussagen. Denn, und hiermit sei der Gedanke von oben fortgeführt: Wer des einspruchslosen Wartens nicht fähig ist, offenbart zuvorderst eines: das fehlgeleitete Emanzipationsbestreben eines Menschen, der sich entmachtet wähnt. Der wartende Mensch wartet, weil ihn jemand warten macht. Wenn nicht absichtlich, so doch mindestens aus Unhöflichkeit, Fahrlässigkeit, Unverantwortlichkeit. Wer warten muss, wird in die Abhängigkeit gedrängt – und wer kann schon akzeptieren, am Fuße eines Hierarchiegefälles der Ankunft eines Zuges oder Päckchens zu harren? Nicht der mündige Wutbürger. So wird denn der wutentbrannte Anruf bei der Servicehotline zum Akt der Auflehnung und Selbstermächtigung. Was derjenige, der einem das Warten aufzwingt, eben dadurch an Macht gewinnt, wird ihm durch den verlautbarten Protest wieder aberkannt. Dies ändert an der Position des Wartenden selbstverständlich nichts – wohl aber an dessen Selbstwahrnehmung. Der Impuls, der dahinter steht, ist letztlich kein grundsätzlich anderer als jener, der Menschen dazu veranlasst, zänkische Protestkommentare ohne jedweden konstruktiven Anteil unter Onlineartikeln zu hinterlassen: Es geht um das Durchbrechen einer Machtstruktur. Mensch will sich nicht ohnmächtig fühlen, weder durch das Festsitzen am Umsteigebahnhof noch durch den Eindruck, Meinungen Andersdenkender unwidersprochen hinnehmen zu müssen. Still zu schweigen wäre, als stimmte man denen, die einen entmachten, noch zu: Ich habe nichts zu erwarten, nichts zu sagen. Ich habe die Umstände zu akzeptieren. Doch wenn der Bürger zum Verbraucher wird, hat die Akzeptanz ein Ende.

Eine Klarstellung sei der Vollständigkeit halber gemacht: Es geht in diesem Text nicht um Menschen, die ohne eigenes Zutun in eine Situation geraten sind, die sie zum Warten verdammt. Es geht nicht um Menschen, die an Grenzzäunen darben, nicht um Herzkranke, die den Tod eines Spenders auf schreckliche Weise herbeisehnen. Es geht nicht um Menschen, die nicht einmal mit Sicherheit sagen können, was sich auf der anderen Seite ihres Wartens befindet. Es geht um Menschen, deren Warteepisoden eines eint: Ihr Ausgang ist gewiss.* Und zwar aus einem Grund: Sie haben für diesen Ausgang bezahlt. Sie haben ein Ticket gekauft, eine Serviceleistung gebucht, Waren bestellt. Am Ende steht der Abschluss einer Transaktion, die sie eigens in die Wege geleitet haben. Diese Menschen haben sich selbst in eine Position gebracht, deren zwar nicht erwünschte, aber schlechterdings erwartbare Konsequenz Wartezeiten sind, die die den Optimalfall beschreibenden übersteigen. Sie haben sich selbst als Kunden definiert, nein: als Vertragspartner. Und als solche wollen sie geschätzt, nicht übervorteilt werden. Ihr Trotz gegen das Gefühl der Entmachtung wird dabei so raumgreifend, dass er sich ihrer rauschgleich bemächtig, und wie es Rauschzuständen nun einmal eigen ist, geht ein Sog von ihnen aus, der nur allzu geschwind süchtig macht. Dies führt dazu, dass sich peu à peu eine zusätzliche Art des Wartens in die Wartezeiten der Empörungsbereiten mengt: ein Warten im Warten. Ein Warten darauf, dass Dinge schieflaufen. Ein Warten auf Verzögerungen im Ablauf, die Anlass bieten, sich endlich wieder als standhafter Konsument zu beweisen, der sich nicht übertölpeln lässt.

Wir kommen, um uns zu beschweren, sang die Gruppe Tocotronic im Jahr 1996 und lieferte damit wohl nicht ganz freiwillig den Soundtrack einer zwei Jahrzehnte später auf ihrem larmoyanten Höhepunkt angelangten Beschwerdekultur. Mit dem verzweifelten Deutungseifer verkannter Epistemologen werden die Anzeichen der Entmachtung heute in alles hineingelesen, was nicht bei drei wahlweise auf den Bäumen oder fertig ist. Die Strenge, mit der noch die nichtigste Verzögerung als Blasphemie gegenüber der Allheiligkeit des Verbraucherrechts geahndet wird, hat regelrecht calvinistische Qualität – und könnte in ihrer Lächerlichkeit komisch sein. Könnte. Wenn sie nicht ein Klima allgemeiner Missgunst bedingte, in dem es nur noch Schädlinge und Geschädigte zu geben scheint, nicht Menschen und menschgemachte Systeme, deren Fehlerhaftigkeit eigentlich keiner Erklärung bedürfen sollte.

Rund 3,6 Mio. Sendungen bearbeitet DHL an einem Werktag. Es gibt Hochleistungs-DSL mitten im Wald. 5,5 Millionen Menschen nutzen täglich den Fern-, 30 Millionen den Nahverkehr. Es bedarf schon gestandener Egozentriker, um ein Stottern der Hochleistungskundenbefriedigungsmaschine als persönliche Schikane zu interpretieren. Nun ist es allerdings so, dass niemand leichter dem Egozentrismus anheimfällt als die profund Verunsicherten. Und derer scheint es dieser Tage so viele zu geben wie lange nicht. Umso wichtiger wäre es, keine Feindbilder aus Trivialitäten zu generieren. Streitbar sein: ja. Aber da, wo es Sinn ergibt.

(Natürlich ist hier keine absolute Gewissheit gemeint. Aber, gerade im Verhältnis, relative. Haben Sie sich mal nicht so.)

Jens Ullrich
Im Gespräch:

"Refugees In A State Apartment, 2015"

Das Gespräch fand am 02.03.2017 in der Hamburger Kunsthalle statt.

Prof. (i. R.) Dr. Monika Wagner
Vortrag:

Prof. (i. R.) Dr. Monika Wagners Vortrag: "Warteräume. Zur Gestaltung transitorischer Räume.", vom 26.02.2017.

Jens Ullrich
Im Gespräch mit ...

Donnerstag. 02.03. 18 Uhr

Jens Ullrich (Künstler, Berlin), moderiert von Dr. Brigitte Kölle (Kuratorin der Ausstellung). Im Eintritt enthalten. Treffpunkt: Foyer

Philip Scheffner / Merle Kröger
Im Gespräch: Havarie, 2016

Das Gespräch fand am 19.02.2017 im Abaton-Kino zwischen Philip Scheffner / Merle Kröger und Benedikt Wert anlässlich der Sondervorstellung von "Havarie, 2016" statt.

Prof. (i. R.) Dr. Monika Wagner
Vortrag: Warteräume. Zur Gestaltung transitorischer Räume.

Sonntag, 26.02. 16 Uhr

Die Kunsthistorikerin Monika Wagner interessiert sich für Orte des Wartens wie Hotelfoyers, Flughäfen oder Bahnhofshallen. Zwischen An- und Abreise, dem Hier und dem Dort werden diese zu transitorischen Räumen. Sie bieten nicht mehr nur einen Rahmen zum Innehalten oder für Langeweile, sondern werden zunehmend auch als temporäre Arbeitsorte in der digital vernetzten Welt genutzt. Darüber, wodurch sich die Gestaltung dieser sozialen Räume auszeichnet und welchen Ansprüchen diese Nicht-Orte genügen müssen, wird Monika Wagner sprechen. Der Vortrag findet im Rahmen der Ausstellung WARTEN. Zwischen Macht und Möglichkeit statt.

Ort: Werner-Otto-Saal, Hamburger Kunsthalle

Teilnahme: 8 € / 4 € erm. inkl. Eintritt

Vajiko Chachkhiani
Performing:

"Father, 2017"

Vajiko Chachkhianis Performance anlässlich der Eröffnung der Ausstellung

Aleen Solari
Performing:

"Robyn, 2017"

Aleen Solaris Performance anlässlich der Eröffnung der Ausstellung.

Philip Scheffner / Merle Kröger
On Screen: Havarie, 2016

Sonntag 19.02. 11 Uhr. Anschließend Gespräch mit Philip Scheffner (Filmemacher). Im Abaton-Kino, Allendeplatz/Grindelhof, Hamburg.

Jens Ullrich
Working on:

"Refugees In A State Apartment, 2015"

Rayyane Tabet
Working on:

„Waiting for a manifestation: Hamburg, January 24 to 26, 2017“

Warten
Zur Erkundung einer aussterbenden Kulturtechnik
Johannes Vincent Knecht

Warten als Zwang In vieler Hinsicht sind Wartezeit und Warteräume Instrumente gesellschaftlicher Herrschaftsausübung: Wer andere warten lässt, hat Macht über sie. Der Herr verfügt über die Lebenszeit des Dieners (der ihm auf-wartet); der absolutistische Monarch zeigt dem Untertan das Maß seiner Gunst durch die aufoktroyierte Verweildauer im Antichambre; die Kirche verwaltet und verkauft das existenzielle Warten auf Auferstehung und ewige Seligkeit; der Rechtsstaat kujoniert und ordnet die zu ihm geflüchteten Menschen, indem er sie in kafkaesker Renitenz wochenlang vor seinen Verwaltungsstellen auf der Straße stehen lässt. Es geht um Unterwerfung, Disziplinierung und psychologische Zurichtung: Der Wartende ist erst hoffnungsvoll, dann unruhig, schließlich zornig, bis er endlich weichgekocht ist und dankbar und demütig jede ihm gnadenvoll eröffnete Botschaft empfängt.

Ein kurzer Blick auf heutige Verhältnisse genügt, um die Langlebigkeit und fortdauernde Akzeptanz vermeintlich vormoderner Wartesituationen zu erfassen, in denen sich der neofeudale Charakter des Zeitgeistes einmal mehr im Alltäglichen manifestiert: Weiterhin müssen die Subalternen und Abhängigen das ihnen zugemutete Warten von Autoritätsstrukturen und sozial Übergeordneten erdulden, worin sich immer auch Geringschätzung und ökonomische Minderwertigkeit ihrer Lebenszeit gegenüber den Wartenlassenden ausdrückt. Noch immer sehen wir uns von Konvention und Sachzwang genötigt, bei Ärzten, Behörden oder an Pfandautomaten ungewollt unsere Zeit zu verschwenden. Stets ist das Warten ein Zustand der Passivität, der verfügten Fremdherrschaft und Freiheitsbeschränkung.

Die Gestaltung von Wartebereichen ist seit den einschüchternd prachtvollen Vorzimmern der Renaissancepäpste oder Ludwigs XIV. Artikulation und zuverlässiges Sinnbild sowohl des Selbstverständnisses der Autorität als auch ihres Dominanzverhältnisses zum Wartenden: Man denke an lieblos dekorierte Krankenhausflure oder die tristen Metallsitzschalen auf deutschen Ämtern, in denen man womöglich die Mitteilung einer schicksalhaften Diagnose oder gravierende Entscheidungen erwartet. Im Kontrast zeigt der niedergelassene Mediziner Kunstsinn und Solvenz, wenn er seine Privatpatienten in schicken Wartezimmern mit Espressomaschine und Hochglanzjournalen Platz nehmen lässt. Auch an Flughäfen und Bahnhöfen gibt es längst wieder das Mehrklassenwarten: bequeme Lounges für die Privilegierten, kalte Bahnsteige für die Plebejer. Nicht nur Ziel und Dauer, auch Architektur, Beleuchtung, Raumtemperatur, Geräuschkulisse, die Art der Versorgung und Sitzmöbel sowie das Angebot zum Zeitvertreib können in die kritische Analyse einer Wartesituation einbezogen werden.

Warten in diesem Sinne ist Herrschaftsmittel und Ausdruck politisch absichtsvoller Ungleichheit. Wie, wo und wie lange man wartet, hängt von Status und Vermögen ab. Wer hingegen seinem Mitmenschen respektvoll und auf Augenhöhe begegnen will, der zeigt dies eben dadurch, dass er ihn nicht warten lässt. Pünktlichkeit ist daher entgegen dem Sprichwort gerade nicht die »Tugend der Könige«, sondern erscheint – mit einem nur scheinbar barschen Wort Thomas Bernhards – als Indiz egalitärer Philanthropie: »Wer nicht pünktlich ist, ist nicht mein Freund.«

Auch im Bereich zwischengeschlechtlicher Verhaltensweisen entfaltet das Thema diagnostische Kraft und entlarvt die Unausrottbarkeit kulturell gewachsener Unterwerfungsbeziehungen. Vor allem die Frau hat in älterer Zeit nach literarischem Vorbild hoffend zu warten gelernt, entweder wie die tugendsame Jungfrau im biblischen Gleichnis auf den richtigen Mann fürs Leben oder in kindlicher Märchengläubigkeit auf den schönen (und reichen) Prinzen. Im Stand der Ehe dann wartet sie als bürgerliche Wiedergängerin der homerischen Penelope häuslich-treusorgend auf den Gatten, der sich heldenhaft und polygam in der Welt – gern auch im Krieg – herumtreibt. (Es ist vielfach beschrieben worden, wie diese fatalen und machtvollen Rollenklischees in den Ikonografien heutiger (Kinder-)Medien und Spielzeuge immer neue Renaissancen erleben.) Erst die Protagonistinnen der großen Ehebruchsromane im 19. Jahrhunderts (Karenina, Bovary, Briest) durchbrechen die falsche Romantik des Ausharrens und bezahlen es mit dem Leben: Sie ertragen die Unterdrückung ihrer Bedürfnisse nicht mehr und stornieren die Hoffnung, der pragmatische Langweiler an ihrer Seite könnte sich doch noch in einen Märchenprinzen verwandeln.

Warten als Freiraum Als vermeintlich moderne Menschen sind wir der Passivität des Wartens nicht machtlos ausgeliefert. Wir können der aufgezwungenen Zeitvergeudung mit Aktivität und Aneignung begegnen und so die Fremdbestimmung in Augenblicke kathartischer Selbstbestimmung verwandeln. Wartezeit, so zu eigen gemacht, ermöglicht Begegnung mit sich selbst, eine Unterbrechung des eilig und effizient geführten Tagesablaufs, einen Ausstieg aus permanent zweckorientierter Tätigkeit. Man steht in Ruhe an einer Haltestelle, blickt in den Regen, genießt die Langeweile, beobachtet Mitmenschen, lässt Gefühle und Gedanken aufsteigen, die sonst hinderlich sind. Man kann sich wahrnehmen, entspannen, besinnen, versenken, befragen.

Diese Gestaltungsoffenheit schafft Raum für assoziative und intuitive Vorgänge, die im regulären Selbstgespräch kausaler Vernünftigkeit unterdrückt sind. Im höheren Sinne kann Warten daher nach eigenem Willen ein Refugium individueller Autonomie sein, mit Affinität zu Überraschungen und schöpferischen Impulsen.

Dabei liegen – das ist diesem Thema grundsätzlich zu eigen – das Banale und das tief Bedeutsame nah beieinander. Das gilt zunächst für biografisch ernste und folgenreiche Zusammenhänge mit unbekannter Dauer: Warten auf materiellen Reichtum, auf Kinder, auf Glück, auf den Tod. Aber auch in der Zufälligkeit des alltäglichen Wartens können wesentliche Fragen, verdrängte Probleme und Ängste aufsteigen. Nervosität und Ängste, die in der Betriebsblindheit normierter Abläufe unterdrückt bleiben, steigen ins Bewusstsein: Wer wartet, soll sich aushalten können.

Die Vertreibung des Wartens Es liegt auf der Hand, dass selbstbestimmtes Warten in diesem Sinne einen erheblichen Affront gegen das Gebot immerwährender Nützlichkeit und produktiver Selbstverwertung darstellt. Zwar lassen Staat und Kapital ihre Untertanen seit jeher gern warten, da sie keinen Respekt vor menschlicher Lebenszeit an sich haben. Immer klarer zeigt sich jedoch die gegenläufige Tendenz, Warten als (neben dem Schlafen) letzten unverdinglichten und zudem potenziell subversiven Zeitraum zu erkennen und auszumerzen. So beobachten wir zahlreiche Umformungen des Wartens, die sich zum Symptom neuer Herrschaftsmechanismen verdichten. Einige Beispiele:

Lange schon dudeln in telefonischen Warteschleifen keine Vivaldifragmente mehr. Stattdessen vernimmt der Anrufer Werbebotschaften und Hinweise zur prognostizierten Dauer seines Hingehaltenseins; oder er soll im Sinne eines »Outsourcings to the customer« durch vorherige Tasteneingaben sein Anliegen selbst rubrizieren und so an dessen effizienter Bearbeitung mitwirken. Die Wartezeit wird geldwert genutzt, die Kosten des angerufenen Unternehmens sinken.

Augenfällig verändert hat sich das Warten in den Transitbereichen des Verkehrs, wobei die Bahnhöfe der Großstädte den Flughäfen gefolgt sind. Früher gab es dort einen Zeitungs-, einen Tabakwaren- und einen Blumenladen, heute sind die Bahnhöfe zu Einkaufszentren mit Gleisanschluss verkommen, deren architektonische Disposition vorrangig dem Ziel des zwangsläufigen Kontaktes von Reisendem und Einzelhandel sowie der großflächigen Anbringung von Reklame gewidmet ist. Wartezeit wird zu Werbe- und Einkaufszeit. Der hergebrachte Wartesaal in seiner Funktion als bloßer Schutzraum ist abgeschafft, Wartebereiche oder auch nur Sitzgelegenheiten ohne Nötigung zum Konsum muss man lange suchen. Nur die elitarisierten Bahn-Comfort-Kunden und Passagiere der ersten Klasse dürfen im Warmen auf den Zug warten und bekommen den Kaffee und das wohlige Gefühl der Distinktion geschenkt.

Überall – in Schnellrestaurants, Behörden, Haltestellen, Flugzeugen – wird reine Wartezeit suspendiert oder durch Zeichen, Regeln und räumliche Gliederungen zielgerichtet strukturiert. Zu solchen Maßnahmen gehört die Sortierung der Wartenden durch Nummernausgabe und Anzeigetafeln oder das Ordnen der Schlange durch Absperrbänder im Sinne des »Queue Management«. Auch wird der Wartende nun ständig über Grund und Dauer seiner zu opfernden Zeit informiert (bei der Bahn gern in großer Dehnbarkeit und mithilfe der dadaistischen Nonsensfloskel »Verzögerung im Betriebsablauf«). Es wäre ein Missverständnis, solche Lenkungstechniken als Zeichen von Service oder gar Freundlichkeit aufzufassen. Vielmehr verschleiern sie den hierarchischen Charakter der Situation und sichern der Autorität die Deutungshoheit. Im Sinne Foucaults muss der Wartende durch Regelung, Überwachung und Sanktionierung diszipliniert werden, um besser kontrolliert und verwertbar zu sein. Und auch im größeren Maßstab treibt der rezente Kapitalismus seiner Bevölkerung das Warten aus. Triftiges Beispiel sind die inflationären Partnervermittlungs- und Kontaktportale, die das sehnende Hoffen und Warten, die Macht der zufälligen Begegnung und die Freuden des Flirts quasi im Alleingang erledigt haben. Stattdessen lässt man sich seine Lebensmenschen oder Sexualpartner nun gegen Bezahlung oder Datenpreisgabe als Produkt eines hermetischen Algorithmus zuschanzen.

So erscheint die Abschaffung oder Ausbeutung vormals wirtschaftlich brachliegender Wartezeiten als markantes Phänomen des zeitgemäßen Konsumismus: Der Homo oeconomicus im finalen Stadium seiner Dressur soll nicht warten, denn Warten ist unkommerzialisierte Lebenszeit. Die Ausweitung spätkapitalistischer Hegemonie auf sämtliche Lebensbereiche erfordert daher auch die Urbarmachung potenziell freiheitlicher Wartezeit. Dabei spielen neben der praktischen Ausweitung möglichst ununterbrochener Wertschöpfung psychologische Gründe die Hauptrolle, denn Wartezeit im Sinne autonomer Selbstbegegnung widerspricht offensichtlich der aggressiv-dominanten Forderung an die Conditio humana im fortschreitenden Posthumanismus: Der in sich ruhende, sich selbst ertragende und sich selbst genügende Mensch ist nicht nur wirtschaftlich unnütz, sondern gefährlich.

Stöckchen, Knochen und Leine Wichtigster Vernichter freier Wartezeit ist das mit gutem Grund sogenannte Smartphone, das sich auch in dieser Hinsicht als wesentlicher Agent und Katalysator spätkapitalistischer Menschenformung erweist. Es verwirklicht den feuchten Traum des Zeitgeistes, indem es den Benutzer verführt, seine Existenz freiwillig und lückenlos der Überwachung und Ausbeutung durch den ökonomisch-politischen Komplex zu unterwerfen. Jeder sich im Alltag eröffnende Zeitraum kann durch die Angebote der körpernahen Kleinelektronik mit kurzweiliger Beschäftigung verfüllt werden. Sofort wird aus dem Wartenden ein profitabler Konsument, der ebenso billig wie zuverlässig der Verlegenheit kontemplativer Selbstbegegnung entkommt. Das Smartphone ist also Mittel der Ekstase im wörtlichen Sinne: Der Benutzer wird seiner raumzeitlichen Gegenwart entführt und gerät gleichsam außer sich. Er vermeidet das Risiko innerer Einkehr, indem er die bedrohliche Leere des Wartens durch den reflexhaft gewordenen Blick zum Taschenbildschirm im Entstehen abwehrt. Entgegen dem demagogischen Wort vom »sozialen Medium« führt dieser pathologische Gewohnheitseskapismus nicht zu gedeihlichem menschlichen Austausch, sondern – diverse soziologische und psychologische Studien erweisen es – zu Narzissmus, Selbsttäuschung und Vereinzelung, vor allem aber zu Nervosität und Neid auf die simulierten Alphamerkmale sogenannter »Freunde« und somit zu schleichender Entsolidarisierung. Erst durch die massenhafte Bereitschaft, das eigene Sozialleben der Kontrolle und Manipulation der Privatwirtschaft auszuliefern, konnte das Smartphone jene Ubiquität und vermeintliche Unverzichtbarkeit erlangen, durch die es nun, in Verschaltung mit maschinellen Erweiterungen der Körpervermessung, den Menschen in fast allen Aspekten der Lebensentfaltung schlussendlich zum Leibeigenen des Kapitals im leider ganz unmetaphorischen Sinne gemacht hat.

Dabei folgt die psychologisch raffinierte Abgewöhnung des Wartens durch das Smartphone nicht nur dem unmittelbar durchschaubaren Ziel der Durchsetzung totalitärer Überwachung und permanenter statistisch-kommerzieller Verwertung. Vielmehr stehen das Antrainieren seiner suchtartigen Verwendung und damit die Transformation und Abschaffung der Wartefähigkeit im Zusammenhang einer anthropologischen Verschiebung, die mit dem Begriff der Entfremdung nur unzureichend beschrieben ist: Der Mensch, der das Warten im Sinne des Sich-Aushaltens verlernt hat, ist den Reizen, Betäubungen und emotionalen Versprechungen des Kapitals schutzlos ausgeliefert und lässt sich im Zustand latenter Unruhe und Angst gefügig an die immer kürzer werdende Leine der Verdinglichung legen. Wer sich außerhalb von Konsum- und Ablenkungszusammenhängen nicht mehr erträgt, ist leicht zu beherrschen. – Anders gesagt: Wartenkönnen ist eine Form des Protestes, eine im Sinne der Menschlichkeit bewahrenswerte Fähigkeit, ein Modus der Freiheit und Insubordination.

(Dieser Artikel erschien zuerst in leicht veränderter Form unter dem Titel »Verzögerung im Betriebsablauf – Zur Erkundung einer aussterbenden Kulturtechnik: des Wartens« in der Zeitschrift »konkret« 04/2016)